Heinrich Nelsons Ahasver-Roman

Heinrich Nelsons Ahasver-Roman. Ein anekdoton aus der Geschichte der Philosophie Leonard Nelsons (2019). URL: www.guenter-dammann.de/files/publikationen/heinrich-nelsons-ahasver-roman.pdf.

Glosse

Als ich im Verlaufe des Jahres 2000 meine Vorlesung Der ‚Ewige Jude‘ vom ‚Volksbuch‘ bis zu Stefan Heym für das WS 2000/01 vorbereitete, stieß ich bei Werner Zirus (1928) auf einen drei Seiten umfassenden Passus über den „Märchenroman“ Ahasvers Wanderung und Wandlung eines gewissen Heinrich Nelson. Selbstverständlich fand sich dieser Titel auch bei George K. Anderson (1965), dem Grundlagenwerk zum Thema. Beide Darstellungen, ohnehin einander bis in Einzelheiten hinein sehr ähnlich, wiesen eingangs auf den Befund hin, dass der Roman vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben, aber erst 1922 veröffentlicht worden sei. Näheres über Autor und Kontext freilich suchte ich hier wie dort vergeblich. Bei solcher Sachlage empfahl es sich nicht, das Buch in das Korpus einer Vorlesung einzureihen. Das Änigma Nelson–Ahasver freilich blieb und verlangte nach Lösung, in welchem Schlendrian auch immer. Schon der erste Schritt, den ich dann allerdings doch bald unternahm, war verblüffend erfolgreich: Das Buch fand sich in meiner Hamburger Staatsbibliothek, einem Standort unter nur vier weiteren in der ganzen Republik. Die Identität Heinrich Nelsons klärte sich in Zeiten des Netzes gleichfalls bald: Heinrich war der Vater des Philosophen Leonard Nelson. Einen Leonard-Nelson-Nachlass verwahrt das Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn; hier finden sich auch Unterlagen zur Familie, weiteres Material liegt im Bundesarchiv Berlin, darunter ein Typoskript des Ahasver-Romans. Das Archiv in der Bonner Godesberger Allee, dem ich 2003 einen Besuch abstattete, bot zu „Vater Nelson“ (dies der im Nelson-Kreis eingebürgerte Name) Forschungsvorarbeiten für eine Biographie, Dokumente von Italienreisen, Unterlagen zu literarischen Arbeiten, darunter das umfängliche Typoskript einer Erzählung mit dem Titel Serena – sowie einige beeindruckende Rötelzeichnungen von der Hand der Ehefrau Elisabeth. Auf einen anschließenden Besuch des Bundesarchivs habe ich verzichtet.

Das Änigma Ahasver–Nelson bestand für mich nicht mehr. Immerhin sollte es doch noch zu einer anspruchslosen Publikation kommen. Die Frage war nur, wo ein Vorhaben, das vielleicht auf ein gutes Dutzend Seiten berechnet war, bei seiner großen thematischen Diversität unterzubringen wäre. Mir stand keine Fachzeitschrift vor Augen, der ich eine solche kleine Studie ‚über Gott und die Welt‘ mit Erfolg hätte anbieten können. Da aber, wie gesagt, mein Änigma gelöst war, drängte mich auch nichts zu einer Publikation, bis ich jetzt auf den Gedanken kam, meine Homepage mit ihrer persönlichen Nuance sei der sachdienliche Ort für die Darstellung von Zusammenhängen, die gerade in ihrer Versprengtheit vielleicht auch fesseln könnten. Zehn Jahre nach der ursprünglichen Niederschrift und mit Blick auf die Möglichkeiten der Netzpublikation war eingreifend zu redigieren. Vor allem musste jetzt auch ein Titel gefunden werden. Der wirkt, wie er so unvermittelt dasteht, peinlich preziös, wenn nicht gar prätentiös. Er ist weder das eine noch das andere, ist vielmehr prägnant und präzise: Heinrich Nelsons Ahasver-Roman hat in der Geschichte von Leonard Nelsons akademischen und politischen Umtrieben eine Funktion, die am besten mit dem Etymon des (heute anderes meinenden) Gattungsbegriffs ‚Anekdote‘ bezeichnet wird.

Ich danke dem Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn für die freundliche Erlaubnis zur zitierenden Veröffentlichung von Ungedrucktem.