Roman und Autobiographie

Roman und Autobiographie. Ein kontrastiver Versuch über Karl von Holteis Die Vagabunden und Vierzig Jahre. In: Karl von Holtei (1798–1880). Leben und Werk. Fragestellungen – Differenzierungen – Auswertungen. Hg. von Leszek Dziemianko und Marek Hałub. Leipzig 2011, S. 18–47.

Holtei beginnt seinen ersten Roman 1845, mithin im Alter von über 40 Jahren, als bereits eine mehrbändige Autobiographie seines Lebens vorliegt. „Vierzig Jahre“ wie „Die Vagabunden“ erzählen das Leben eines Mannes von der Kindheit bzw. Jugend bis zu den ‚besten Jahren‘; die wesentliche thematische Verbindung zwischen beiden Biographien besteht in der Rolle der Kunst als Beruf. Der Beitrag will, anhand dieses doppelten Beispiels, Roman und Beschreibung des eigenen Lebens in gattungstheoretischer Absicht kontrastiv gegeneinander führen. Eine erste markante Differenz zeigt sich darin, dass die Welt der Autobiographie tatsächlich die Welt des Autobiographen ist, während die des Romans bewusst eine Welt älteren Zuschnitts zeigt: So fehlen in „Die Vagabunden“ der Krieg gegen das napoleonische Frankreich wie auch die moderne Welt der Zeitungsmedien mit ihren Theaterkritiken jeweils völlig. Neben solcher Verschiebung der Weltstrukturen muss der Unterschied der Plotstrukturen vermerkt werden: In der Autobiographie stehen die Erwartungen von Familie und Stand an den jungen Adligen in scharfem Gegensatz zu dessen Begeisterung für das Theater. Das Element der Durchsetzung der Liebe zur Kunst gegen die Normen des Standes wird im Roman umkonzipiert zur Flucht aus dem Haus und dem Heimatort. In der Folge führt der Roman führt seinen Helden, das uneheliche Kind eines Rektors und Kantors, in einen Plot mit Anklängen an den Geheimbundroman. Auf dem letzten Stück seines Weges stellt Holtei den Helden dann in eine Replik des Schlusses von Eichendorffs „Taugenichts“, in der Anton in das Dorf seiner Knabenjahre zurückkehrt. Hier sieht er sich zu seiner Verwunderung mittels eines großen für ihn vorbereiteten Auftritt auf einen Schlag in einen Guts- und Grundherrn verwandelt. Die Rückkehr nach Hause ist ein Weg der sozialen Metamorphose. Hiermit steht Holteis Roman in einer Linie, die unter dem Korpustitel „Aufsteiger-Leben“ ihre stärksten Ausprägungen gerade im deutschen Roman zwischen 1750 und 1770 zeigte (Potthast) und den schon von mehrfacher Seite konstatierten moderaten Konservativismus des Autors verrät. – Indessen hängt Holtei seinem Roman einen zweiten Schluss an. Die Weitererzählung über das Happy-End hinaus führt zwar nicht zu einem veritablen Seitensprung, wohl aber zu einem Unbefriedigtsein: „Ich muss im Geschirr des soliden Lebens ziehen.“ Die Stimmung zwischen den Eheleuten wird lastend. Die Episode kommt zur Krise sowie zum glücklichen Ende mit der Geburt des ersten Kindes und der Todesgefahr der Mutter. Dieser angehängte Schluss, strukturell wohl das literaturgeschichtlich Bemerkenswerteste an „Die Vagabunden“, öffnet des Muster des Romans ein Stück weit auf das in der Autobiographie beglaubigte wirkliche Leben.