Gegen ‚deutsche Vergesslichkeit‘

Gegen ‚deutsche Vergesslichkeit‘. Zur Entstehung und zu einigen Kontexten von Paul Schallücks Roman Engelbert Reineke (1959). In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 54 (2010), 430–457.

Zu den Hoffnungen der jungen deutschen Literatur nach 1945 zählte Paul Schallück (Jg. 1922), der viele Auffassungen über Politik und Gesellschaft und auch den Wohnsitz Köln mit dem fünf Jahre älteren, kommerziell freilich viel erfolgreicheren Heinrich Böll teilte. Einer der führenden Linksintellektuellen der Ära Adenauer, Teilnehmer an den Tagungen der Gruppe 47 und seit dem Ende der 50er Jahre engagiert im christlich-jüdischen Dialog tätig, hatte Schallück auch die Chefredaktion der Zeitschrift „Dokumente“ inne, die sich vornehmlich der deutsch-französischen Zusammenarbeit widmete. Schallück starb noch nicht 54jährig, ein bewegender Nachruf von Heinrich Böll würdigte das Profil, das der Schriftsteller in der unmittelbaren Nachkriegszeit gewonnen hatte. Wesentlich wurde Schallück durch einen Roman bekannt, seinen vierten, dem er sich seit 1955 konzentriert zuwendete und der, statt weiterhin eine existentialistische Thematik zu verfolgen wie bis dahin die Mehrzahl seiner Generationsgenossen und Schallück selbst, nun das Thema der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ mit dem Ernst und der Schärfe anging, die erst seit 1958/60 durchgängig den einschlägigen Diskurs bestimmten.

Anfang 1956 war Schallück bereits öffentlichkeitswirksam mit dem Vortrag „Von deutscher Vergeßlichkeit“ hervorgetreten. Der nun dem gleichen Thema gewidmete Roman mit dem Titel „Engelbert Reineke“ (1959), für dessen Analyse noch der umfängliche einschlägige Bestand des seitdem untergegangenen Schallück-Nachlasses des Historischen Archivs der Stadt Köln herangezogen werden konnte, wurde nach etlichen Konzeptionsänderungen schließlich im Frühjahr 1959 publiziert, und zwar, was für (von seiten des Verlags beabsichtigtes) Aufsehen sorgte, als Taschenbuch in der Fischer-Bücherei, eine absolute Novität für literarische Neuerscheinungen. „Engelbert Reineke“ steht in intertextueller  Konstellation zu Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“ (1925). Gehen in Woolfs Werk die Titelheldin und andere Mittfünziger durch London und hängen dabei ihren Erinnerungen an die Verluste und Fehler der Jugend nach, so konzentriert Schallück sein Personal auf Engelbert Reineke, dessen Erinnerungen sich nicht zurück auf existentielle Schaltstellen seiner Biographie, sondern auf kriminelle Handlungen der zurückliegenden NS-Zeit richten (Wer hat Reinekes Vater bei der Gestapo denunziert? Wer ist damit für dessen Verbringung in das KZ Buchenwald verantwortlich?). Existentialistische Einflüsse (Jean Gebser und Søren Kierkegaard), die in späteren Arbeitsstufen de Romans nochmals bestimmt hatten, sind am Ende in die Konzeption der Figur August Lehmköster eingegangen, die auch der Gesprächsphilosophie Martin Bubers entscheidende Anregungen verdankt.